* 46 *

46. Das Gefängnis

 

Marcia

Im Gefängnis öffnete Simon Heap die Augen und stöhnte auf. Im ersten Augenblick glaubte er, er sei im Verlies Nummer eins, aber dann sah er, dass ein schmaler Lichtstrahl durch ein kleines, vergittertes Fenster fiel, und beruhigte sich wieder. Das Verlies Nummer eins war mit einem Zauber absolut lichtdicht verschlossen, und obwohl Simon ein ziemlich unangenehmer Geruch in die Nase stieg, roch es hier doch nicht annähernd so schlecht wie im Verlies. Der Oberste Wächter hatte es ihm einmal gezeigt, und es war ihm in lebhafter Erinnerung geblieben.

Ganz langsam setzte er sich auf. Er hatte Kopfschmerzen, und sein Bauch fühlte sich so an, als sei er voller blauer Flecken, aber soweit er feststellen konnte, hatte er sich nichts gebrochen. Er wunderte sich ein wenig über die vielen Löcher in seinem Kittel, bis ihm schlagartig alles wieder einfiel. Der Drache ... die Rotznase ... der Verlust des Flug-Charms. Er stöhnte erneut. Er war ein Versager. Ein jämmerlicher Versager. Es war schon schlimm genug, dass Marcia ihn nie gefragt hatte, ob er ihr Lehrling werden wollte. Und jetzt hatte sich auch noch herausgestellt, dass nicht einmal DomDaniel ihn hatte in die Lehre nehmen wollen – und das nach allem, was er für ihn getan hatte. Er hatte seine widerwärtigen Knochen mitgenommen und unzählige Male damit das Manuskriptorium aufgesucht, wo er mit diesem hochnäsigen Hugh Fox verhandeln musste, der ihn mit seiner langen spitzen Nase immer von oben herab ansah. Doch am allerschlimmsten waren diese trostlosen Fahrten durch die Eistunnel gewesen, die Besuche bei dieser grässlichen Una Brakket, bei der er die Knochen abliefern musste, ohne dass der alte Weasal etwas merkte. Manchmal hatte er ihr sogar dabei geholfen, die vermaledeiten Knochen in das Amalgam zu stecken, damit sie pünktlich zu ihrem Volkstanzabend kam. Was für ein Narr war er nur gewesen. Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, tauchte auch noch sein Möchtegernbruder, dieser Hochstapler, auf einem Drachen auf. Der Bengel war erst elf, und trotzdem hatte er es bereits zum Lehrling der Außergewöhnlichen Zauberin gebracht und besaß einen eigenen Drachen. Wie hatte er das nur angestellt?

Simon hockte auf dem Fußboden des Gefängnisses und zerfloss vor Selbstmitleid. Keiner wollte ihn. Immer ging alles schief. Das Leben war ihm zuwider und einfach ungerecht.

Nach einer Weile stieg ein vertrautes Gefühl der Wut in ihm auf. Er erhob sich und sah sich in seinem Gefängnis um. Er würde ihnen zeigen, dass ein Simon Heap nicht so leicht kleinzukriegen war – er würde ruck, zuck hier raus sein. Wütend stieß er gegen die Tür, ohne Erfolg. Doch er vernahm ein ängstliches Flüstern.

»Er versucht auszubrechen ...«

»Was sollen wir tun?«

»Ist er sehr gefährlich?«

»Sei doch nicht so ein Hasenfuß, Brian.«

»Hört auf zu zanken, ihr zwei. Die Außergewöhnliche wird gleich hier sein.«

Simon grinste breit. Fein, sollte sie ruhig kommen, aber er würde nicht mehr da sein. Jetzt wusste er nämlich, wo er war.

Vor vielen Jahren hatte Jannit ihre Werft um den ehemaligen Zollkai erweitert. Das Backsteingefängnis, in das man früher betrunkene Matrosen und zwielichtige Gestalten, die in die Burg gekommen waren, gesperrt hatte, war alles, was vom alten Zollamt noch übrig war. Jannit hatte es stehen lassen, um ihr wertvolleres Werkzeug darin aufzubewahren. Es hatte noch die schwere Eisentür mit den drei Riegeln auf der Außenseite und dem großen Messingschlüssel im Schloss. Und Simon wäre jede Wette eingegangen, dass auch noch die Falltür da war, die in die Eistunnel führte.

Er kniete sich hin und begann, den Schmutz vom Boden zu kratzen, der sich im Lauf der Jahrhunderte angesammelt hatte. Erfreut stellte er fest, dass Jannit eine Schaufel dagelassen hatte, und so dauerte es nicht lange, bis er in etwa dreißig Zentimeter Tiefe auf Metall stieß.

Die versiegelte Falltür öffnete sich leicht unter seinen geübten Händen. Ein eisiger Wind schlug ihm entgegen, und Simon schlüpfte durch die Luke hinab in die Eistunnel.

Die dreizehn Zauberer – Jannit hatte die anderen zehn eilends vom Angelsteg neben der Werft zurückgeholt – umstellten soeben pflichtbewusst das Gefängnis, als Marcia in Begleitung von Sarah und Silas Heap das Gelände betrat.

Sarah und Silas hatten darauf bestanden, ihren ältesten Sohn zu sehen. Da sie nicht glauben konnten, was Marcia ihnen berichtet hatte, wollten sie persönlich mit ihm sprechen. »Zumindest«, hatte Sarah gesagt, »muss er diesmal dableiben und zuhören. Diesmal kann er nicht einfach weglaufen, wie er es sonst immer tut.«

Jannit geleitete die drei zum Gefängnis. Neben Marcia, deren lila Seidengewand sich im Wind dieses Sommerabends bauschte, wirkte ihre kleine drahtige Gestalt beinahe zwergenhaft.

»Da wären wir, Madam Marcia«, sagte sie und blieb bei den Zauberern stehen. »Er ist da drin. Wir haben ihn vor ein paar Stunden eingesperrt. Mittlerweile dürfte er wieder zu sich gekommen sein. Bei seinem Angriff auf den Drachen hat er sich eine hässliche Beule am Kopf geholt.«

»Du liebe Zeit!«, rief Sarah besorgt. »Wenn er doch nur diese Dummheiten lassen würde.«

»Das würden wir uns alle wünschen«, erwiderte Marcia streng. »Aber leider ist er über bloße Dummheiten weit hinausgegangen. Ich würde eher von bösartigen Intrigen sprechen.«

»Ach, Silas«, jammerte Sarah. »Was sollen wir nur tun?«

»Wir reden mit ihm, Sarah«, antwortete Silas beschwichtigend, »und hören uns an, was er zu sagen hat. Hör auf, dich zu quälen, wir können nichts tun. Simon ist erwachsen.«

Die beiden vor der Tür postierten Zauberer machten der Außergewöhnlichen ehrfürchtig den Weg frei. Jannit schob die Riegel zurück, drehte den schweren Messingschlüssel im Schloss und öffnete die dicke Eisentür.

»Simon!«, rief Sarah und rannte in das Gefängnis, bevor sie jemand daran hindern konnte. »Simon ... Simon?«

»Haben Sie etwa davon gewusst?«, fragte Marcia, an Jannit Maarten gewandt, die fassungslos auf die glänzende Metallklappe im Fußboden starrte.

»Nein«, antwortete Jannit knapp. Der Ton der Außergewöhnlichen gefiel ihr nicht, und noch weniger gefiel ihr, dass auf ihrer Werft jetzt noch etwas ans Licht kam, wovon sie nichts gewusst hatte.

»Was ... was ist das?«, fragte Sarah und suchte bei Silas Halt. Sie war verzweifelt. Simon war schon wieder weggelaufen.

»Nichts«, antwortete Marcia energisch. »Nichts, was Sie zu wissen brauchen. Ich möchte, dass diese Falltür mit einem Zauber versiegelt wird, jetzt sofort. Wo ist Alther?«

Alther Mella schwebte zu ihr.

»Alther, gibt es unter den Alten noch welche, die früher durch die Tunnel gewandert sind? Ich möchte, dass jede einzelne Falltür bewacht wird, bis alle Siegel überprüft sind.«

»Der Einzige«, antwortete Alther, »der dafür in Frage kommt und noch nicht völlig vertrottelt ist, bewacht die Falltür zum Zaubererturm. Ich selbst war nie da unten. Zu meiner Zeit ist niemand in die Tunnel gegangen.«

»Das sollte auch heute niemand tun, Alther. Bis auf den Inspektionsgehilfen. Dieser Hugh Fox wird uns viele Fragen beantworten müssen.« Marcia überlegte einen Moment. »Alther, würden Sie bitte mit einem Zauberer ins Manuskriptorium hinübergehen und etwas Zaubersiegelwachs holen? Dann können wir wenigstens diese Tür hier versiegeln.«

»Verzeihen Sie«, unterbrach Jannit, »aber das Boot aus Port ist eingetroffen. Ich erwarte eine Lieferung.« Damit ging sie hinüber zum Ponton, den soeben ein langes schmales Boot, auf dem sich Kisten und Körbe stapelten, ansteuerte.

Jenna – die Simon Heap nicht zu nahe kommen wollte – war wieder beim Drachenboot, streichelte ihm sanft den Kopf, flüsterte ihm aufmunternde Worte ins Ohr und suchte verzweifelt nach einem Lebenszeichen, während Nicko und Rupert zwei große Segeltuchschlingen unter dem beschädigten Rumpf anbrachten. Als das Boot aus Port am Ponton anlegte, schaute Jenna auf und sah, wie Jannit die Leinen auffing und an zwei großen Pollern festmachte. Dann bemerkte sie zu ihrem Schrecken noch etwas anderes oder, besser gesagt, jemanden anderen – den dunkelhaarigen Fremden aus Port.

Der große Mann stand an Deck und machte Anstalten, an Land zu springen. Sein langes dunkles Haar wurde von einem silbernen Stirnband zusammengehalten, und sein rotes Seidengewand war von der Reise zerknittert und schmutzig. Sie duckte sich hinter den Kopf des Drachenbootes und hörte, wie der Fremde mit tiefer Stimme und leichtem Akzent Jannit fragte: »Verzeihen Sie, Madam, aber ich habe gehört, dass die Prinzessin hier irgendwo zu finden sein soll. Ist das richtig?«

»Wer will das wissen?«, fragte Jannit misstrauisch.

»Nur jemand, der die Prinzessin sucht«, antwortete der Fremde ausweichend. Da bemerkte er das geschäftige Treiben beim Gefängnis. »Ist das nicht der Außergewöhnliche Zauberer da drüben, Madam?«, fragte er.

»Kann schon sein«, antwortete Jannit, die gerade einen Knoten machte.

»Entschuldigen Sie, ich muss sofort zu ihm.«

»Zu ihr«, verbesserte Jannit, aber der Fremde war schon fort.

»Verzeihung«, rief er mit lauter Stimme, als er sich der Gruppe am Gefängnis näherte. »Könnte ich vielleicht mit dem Außergewöhnlichen Zauberer sprechen?«

Marcia drehte sich um, und der Fremde sah verwirrt aus. Er blieb stehen und wühlte in seiner Tasche. »Alther?«, fragte er. »Sind Sie das, Alther?«

Marcia antwortete nicht. Sie war erbleicht.

»Ah, da ist sie ja.« Mit triumphierender Miene zog der Fremde eine kleine goldene Brille aus der Tasche und setzte sie vorsichtig auf. Erstaunen legte sich auf sein Gesicht.

»Marcia Overstrand«, rief er, »Außergewöhnliche Zauberin! Donnerwetter!«

»Milo?«, fragte Marcia leise. »Milo Banda? Bist du das?«

Der Fremde war von seinen Gefühlen überwältigt. Er nickte wortlos, und zu Jennas Entsetzen trat Marcia auf ihn zu, nahm ihn in die Arme und drückte ihn. »Wo bist du denn all die Jahre gewesen?«, fragte sie. »Wir haben dich für tot gehalten.«

Im selben Moment, als Marcia den Fremden losließ, ertönte ein lauter Schrei vom Cut herüber. Nicko hatte aus Versehen eine Segeltuchschlinge ins Wasser fallen lassen.

Zum ersten Mal sah Marcia, in welch beklagenswertem Zustand das Drachenboot war. »Jannit!«, schrie sie. »Jannit, was ist passiert?«

Jannit machte keine Anstalten zu antworten. Sie war fest entschlossen, das Drachenboot noch vor Einbruch der Nacht zu heben, und hatte genug von all den Zauberern, die sich auf ihrer Werft herumtrieben. Ihr Bedarf war gedeckt. Müde sagte sie zu Nicko: »Hol dir eine andere Schlinge, ja? Dann versuchen wir es gleich noch einmal.«

Jenna hatte die Begrüßung des dunkelhaarigen Fremden durch Marcia mit wachsender Fassungslosigkeit beobachtet. Jetzt, als Marcia quer über die Werft zum Drachenboot kam und den Fremden mitbrachte, sprang sie auf, und bevor sie jemand aufhalten konnte, war sie in dem Tunnel verschwunden, der aus der Werft herausführte.

Septimus Heap 02 - Flyte
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